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Einer ist immer grösser als du

  • ftschannen
  • 26. Apr.
  • 2 Min. Lesezeit

Eltern, Grosseltern, Onkel und Tanten und natürlich auch die lieben Nachbarn meinten mir in etwa halbjährlichen Abständen immer wieder sagen zu müssen: Ei, ei, ei, wie du gewachsen bist! Warum sagten sie das? Taten sie es, weil sie wussten, dass man nicht merkt, wie man wächst, während man wächst? Oder sagten sie es, weil sie mir nahelegen wollten, ich müsste doch stolz darauf sein? Stolz sein, bloß weil man grösser wird?


Für mich ging diese Veränderung sowieso viel zu langsam vor sich, als dass ich auf sie hätte stolz sein können. Und zudem, wenn ich aus den Augenwinkeln zum Kopf meines Bruders hinübersah, schon gar nicht. Seiner war oben, meiner unten. Und mein Bruder versäumte es nicht, mir immer wieder klar durchzugeben, dass er der Grössere, der Ältere und der Gescheitere war. Der halbe Kopf grösser war die ganze Kindheit und Jugend hindurch eine unveränderliche Konstante. Gewissheit zu haben, ich sei wirklich gewachsen, hätte ich nur daran erkennen können, dass ich gleich gross wie er oder gar grösser als er geworden wäre. Eigentlich wuchs ich also die ganze Kindheit mit meinem Bruder hindurch nicht wirklich. Ich nahm es mit gespieltem Desinteresse zur Kenntnis, wenn an der freien Stelle an der Wand, der Wachstumsstand mit Datum festgehalten wurden. Das bekannte Lied: Er ist grösser als du. Was soll’s? Grösserwerden ist doch kein Wettbewerb, schon gar kein Verdienst.


Allmählich vergass man zu messen. Masslos sozusagen wuchsen wir in die Höhe. Doch eines Tages sagte mein Vater, der uns beide nebeneinanderstehen sah, erstaunt zu mir: Du bist ja gleich gross wie dein Bruder! Wir legten ein breites Buch auf unsere beiden Köpfe und, tatsächlich, das Buch fiel nicht schräg ab. Ich habe es im Spiegel selbst gesehen. Da konnte ich jetzt also stolz sein. Ein Jahr später war für alle, die uns beide kannten, klar, dass ich von nun an der grössere war. Ich war also doch gewachsen, während mein Bruder und so weiter.


Zugegeben, anfänglich war ich stolz darauf. Im ständigen brüderlichen Messen schien ich obsiegt zu haben. Aber als ich mir klarmachte, und mit sechszehn kann man sich das klarmachen, dass ich ja nichts dazu beigetragen hatte, blieb es ein schaler Sieg, den herumzuposaunen ich tunlichst unterliess. Er blieb ja sowieso der Ältere und damit irgendwie doch der Grosse. Und schon bald vergass ich, dass ich einen Fünftel- oder Viertelkopf grösser war als er. Ich war jetzt zwar der Grössere, doch das Größersein hatte seine Bedeutung verloren. Höchstens bei den Kopfbällen im Fussball spielte das noch eine Rolle. Der ältere Bruder ist er sowieso geblieben, wird er immer bleiben. Gegen dieses eiserne Gesetz der Zeit kommt niemand an. Da kann man noch so gross werden.


Und sowieso, einer ist immer grösser, gescheiter, schneller, geschickter, schöner als du.

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